Daniel Minkin (Philipps-Universität Marburg)
Bielefeld und die Reptilienmenschen
Ein philosophisches Plädoyer für interdisziplinäre Forschung zu Verschwörungstheorien
„Verschwörungstheorien – darum sind sie so gefährlich“, so lautet der Name einer Folge der ARD-Sendung „Planet Wissen“. Und der Blogger Rayk Anders wählt für den Titel seines ebenfalls von Verschwörungstheorien handelnden Buches noch drastischere Worte: „Eure Dummheit kotzt mich an. Wie Bullshit unser Land vergiftet“. Innerhalb der medialen Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien scheint es einen Konsens dahingehend zu geben, dass eine Erklärung allein aufgrund der Tatsache abzulehnen ist, dass es sich bei dieser Erklärung um eine (vermeintliche) Verschwörungstheorie handelt. Diese Sichtweise suggeriert, dass es einen klar bestimmten Begriff von Verschwörungstheorien gibt. Im Kontrast dazu steht die wissenschaftliche Behandlung des Themas: Innerhalb der Forschung in den verschiedenen Disziplinen gibt es weder einen Konsens hinsichtlich einer Definition des Ausdrucks „Verschwörungstheorie“, noch ist man sich darüber einig, dass die abwertende Grundskepsis, die die mediale Öffentlichkeit offenbar beherrscht, gerechtfertigt ist.
In meinem Vortrag möchte ich vor diesem Hintergrund drei Ziele anvisieren: Im ersten Teil des Vortrags soll der aktuelle Forschungsstand innerhalb der (philosophischen) Erkenntnistheorie umrissen werden. Hierbei möchte ich mich auf das Problem konzentrieren, dass der Ausdruck „Verschwörungstheorie“ notorisch mehrdeutig ist bzw. dass es mehrere gleichermaßen treffende Definitionen gibt, die sich einander widersprechen.
Verschwörungstheorien sind kein Gegenstand einer einzigen Wissenschaft. Vielmehr beschäftigen sich neben den Erkenntnistheoretiker∗innen auch Psycholog∗innen, Soziolog∗innen und andere Forscher∗innen mit ihnen. Hierbei lassen sich interdisziplinäre Grabenkämpfe und Ignoranz gegenüber den Einsichten eines fremden Faches beobachten. Im zweiten Teil soll am Beispiel eines Konflikts zwischen der philosophischen Perspektive einerseits und der psycho- logischen andererseits dafür argumentiert werden, dass solche Grabenkämpfe und v.a. die Ignoranz gegenüber der im ersten Teil umrissenen erkenntnistheoretischen Arbeit ein echtes Hindernis auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis über die Funktionsweise von Verschwörungstheorien darstellen.
Im dritten Teil schließlich möchte ich einen „dissenstheoretischen Ansatz“ vorstellen, der – so meine Vermutung – Lehren aus dem im zweiten Teil aufgezeigten Konflikt zieht und die Möglichkeit für eine interdisziplinäre Forschung eröffnet, in der die genannten Wissenschaften kooperieren können. Bei der Vorstellung dieses Ansatzes möchte ich mich von der Frage leiten lassen, wie ein rationaler Umgang mit Verschwörungstheorien auszusehen hat. Das zentrale Beispiel, an dem ich den dissenstheoretischen Ansatz zu demonstrieren beabsichtige, sind Verschwörungstheorien, die sich um die Ermittlungen zu der Mordserie des sog. NSU („nationalsozialistischer Untergrund“) ranken.
Robert Reimer (Universität Leipzig)
Wie ›wirkt‹ der freie Wille?
Über cartesische Ansichten in den modernen Kognitionswissenschaften
In diesem Essay möchte ich eine Vorstellung über die Natur des freien Willens offenlegen, die als Ausgangspunkt für die Verhaltensexperimente von Benjamin Libet diente und die heute noch zumindest in abgeschwächter Form von einigen Kognitionswissenschaftler*innen vertreten wird. Demnach müsse das handelnde Subjekt, um frei zu sein, über eine ganz bestimmte Instanz oder Kraft verfügen – einen Willen –, der seinen Sitz oder Manifestationsort im Gehirn hat, und der unbeeinflusst von den neuronalen Aktivitäten des Gehirns diese wiederum kausal beeinflussen und so den Körper in Bewegung versetzen kann. Eine solche Vorstellung bietet sich an für Experimente, da so der Wille naturalistisch, also als quasi-physische Entität aufgefasst wird, dessen Wirkungsmoment zeitlich bestimmt und dessen Resultate gemessen und dokumentiert werden können.
Im ersten Kapitel meines Essays werde ich René Descartes' Unterscheidung von res extensa und res cogitans als mögliche Lösung für das Problem, wie der freie Wille in einer deterministischen Welt wirksam werden kann, diskutieren. Diesem sogenannten ›interaktionistischen Substanzdualismus‹ zufolge könne die res cogitans auf die res extensa Einfluss nehmen, um so einen Akt des freien Willens zu vollziehen. Im zweiten Kapitel werde ich die Experimente von Benjamin Libet vorstellen. Ich werde zeigen, dass Libet, obwohl er selbst kein bekennender Dualist ist, davon ausgeht, dass der Wille die Gehirnaktivitäten in ganz ähnlicher Weise beeinflussen muss, um frei zu sein. In Kapitel drei werde ich die logische Struktur der kausalen Verben analysieren, die beide Philosophen verwenden, um die Wirksamkeit des Willens zu beschreiben. Dann werde ich in Kapitel vier meine Hauptkritik beginnen, indem ich das sogenannte ›Veto‹ als eine mögliche Manifestation des Willens bespreche. Libet zufolge könne ein mentales Veto bereits unterbewusst initiierte Körperbewegungen verhindern. In Kapitel fünf werde ich die Idee eines ›Willensaktes‹ als solche kritisieren, indem ich die Natur derjenigen mentalen Zustände analysiere, die Libet und andere Wissenschaftler als ursprünglichen Ausdruck des freien Willens betrachten: Heidegger und die Geschichte der abendländischen Philosophie, Entscheidungen und Dränge. Schließlich werde ich mich in Kapitel sechs einigen modernen Kognitionswissenschaftler*innen zuwenden, die davon ausgehen, Libets eigene, aber auch diesen ähnliche Experimente könnten beweisen, dass der freie Wille ein Epiphänomen ist. Ich werde dafür argumentieren, dass der Epiphänomenalismus, dem diese Forscher*innen bewusst oder unbewusst anhängen, immer noch an Descartes' und Libets interaktionistischer Vorstellung des Willens festhält.
Annelie Freese (Universität Erfurt)
Rudolf Euckens Philosophie des Geisteslebens
In meinem Vortrag möchte ich eine Übersicht über Rudolf Euckens Philosophie des Geisteslebens geben. Zunächst gehe ich kurz auf seinen Werdegang ein, dann auf den Beweggrund zur Erarbeitung seines philosophischen Programms und zum Schluss auf den systematischen Aufbau seiner Theorie.
Die Philosophie Rudolf Euckens (1846–1926) war ab den 1890 bis in die 1920 Jahre im akademischen und außerakademischen Bereich in Deutschland und darüber hinaus höchst populär. Diese große Resonanz zeigte sich in der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1908. Ab Mitte der 1920er Jahre ließ das Interesse für seine Philosophie merklich nach.
Seine Philosophie ist verankert in den Problemlagen seiner Zeit und darum entwickelt als Mittel zur Krisenlösung der für ihn gegenwärtigen existentiellen Menschheitsfragen. Diesen Selbstanspruch entwickelt er in seiner Theorie des Geisteslebens. Sie stellt das Konzept eines neuen Idealismus dar, der den Gegensatz von Intellektualismus und Naturalismus überwinden soll. Unter diese beiden Oberbegriffe subsumiert er alle disparaten Geistesrichtungen seiner Zeit. Diese Strömungen sollen durch sein neuidealistisches Programm synthetisiert, erweitert und gesteigert werden, um damit die notwendigen Voraussetzungen zur Bewältigung der Krise zu schaffen.
Der Begriff des Geisteslebens ist der zentrale Begriff der gesamten Euckenschen Philosophie und auf ihn bezieht sich dessen ganzer Aufbau. Euckens theoretische Ausrichtung ist die Grundidee eines universalen Geisteslebens, das allen Erscheinungen der Wirklichkeit zu Grunde liegt. Im Verlauf seiner Ausführungen differenziert er das universale in das individuelle und das allgemeine Geistesleben. Im Individuum kommt das universale Geistesleben selbst in die konkrete Existenz und zum Bewusstsein, es vergegenwärtigt sich in ihm. Das allgemeine Geistesleben konstituiert sich durch das Zusammenwirken der verschiedenen individuellen Geistesleben. Allen Formen des Geisteslebens sind Einheit und Aktivität als wesentliche Momente inhärent. Beide Momente bewirken eine sukzessive Höherentwicklung des Geistigen in der Lebensbewegung. Bis hin zu ihrer Vollendung. Durch die Beziehung der Faktoren des Geisteslebens gewinnt Eucken die entscheidenden Aussagen für seine Theorie des Menschen. Sie soll Universum, Mensch und Natur als Einheit aufweisen. Mensch und Welt sind jedoch nicht als fertig, sondern als im Werden anzusehen.
Die Menschheitsgeschichte bildet das Medium, in dem sich das Geistesleben herausbildet. Eucken stellt diesen Prozess in drei aufeinander aufbauenden Lebensstufen dar: als naturhaftes, als entfaltetes und als vollendetes Leben. Die wichtigste ist die zweite Lebensstufe, in der Eucken die Explikation des Geisteslebens verortet, die er in einer komplexen Begrifflichkeit darstellt. Das Ziel der Vollendung der geistigen Evolution bezeichnet er alsdie dritte Lebensstufe. Alle Begriffe, mit denen er die Entwicklung des Geisteslebens darstellt, bauen aufeinander auf und sind systematisch untereinander verknüpft.
Niklas Sommer (Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Das Schöne als Aufgabe für die sinnlich-vernünftige Natur
Schillers Grundlegung der Kunstkritik
In Schillers Bearbeitungszeit der Augustenburger Korrespondenz fällt seine vielzitierte Äußerung gegenüber seinem Vertrauen Körner, dass das Schöne kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ sei: eine Aufgabe für die sinnlich-vernünftige Natur. Was als Zäsur in Schillers Denken und Abkehr vom in seinem früheren Schaffen verfolgten Ziel, ein objektives Kriterium des Schönen zu beweisen, betrachtet wird, offenbart sich bei näherer Betrachtung als die konsequente Fortschreibung seines kunstkritischen Projekts, das er in den Kallias-Briefen begonnen hatte. Denn Schiller stellt die Frage, wie es zu den eklatanten Unterschieden der ästhetischen Urteilspraxis kommen kann, selbst unter Menschen, die sich prinzipiell einig sind. Darüber hinaus fragt er, wie die idealische Norm eines Gemeinsinns, wie Kant sich ausdrückt, erreicht werden kann. Insofern ist das Schöne, oder vielmehr die Beurteilung desselben, ein Imperativ; insofern ist die Kultivierung zu einer solch idealischen Norm gemeinsamer ästhetischer Praxis eine Aufgabe für die sinnlich-vernünftige Natur. Ist es diese Aufgabe, die den Grundstein der Kunstkritik, wie man eine gemeinsame ästhetische Urteilspraxis nennen mag, legt, stellt sich selbstredend die Frage, was diese Aufgabe vorstellen soll, respektive, wie die Lösung dieser Aufgabe aussehen soll.
Um sich verständlich zu machen, was Schiller unter dieser Aufgabe der sinnlich-vernünftigen Natur versteht, und warum sie sich gerade im Schönen verwirklichen soll, ist es nötig, einen Blick in sein Hauptwerk Über die ästhetische Erziehung des Menschen zu werfen.
Eingebettet in die (rechts-)philosophische Fragestellung nach der Möglichkeit einer friedfertigen Staatsumwandlung behauptet Schiller das Schöne nicht bloß als die Lösung der kulturellen Problematik seiner Zeit. Darüber hinaus versucht er, zu zeigen, dass das Schöne eine notwendige Bedingung der Menschheit sei. Schiller entwickelt den Kern seines Arguments in Brief elf der ästhetischen Briefe in einer sehr gedrängten Rekapitulation der Transzendentalphilosophie. Um Schillers Argument – und die Bedeutung der darin erhaltenen anthropologischen Wende – angemessen verstehen zu können, ist es nötig, sich den theoretischen Hintergrund seines Gedankenganges vor Augen zu führen. Wurde aufgrund von Schillers Terminologie häufig vermutet, dass er sich auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre stützt, wurde sogar bereits in der zeitgenössischen Rezeption auf die vermeintliche Nähe zwischen Schiller und Fichte hingewiesen, so strebt Schiller in seiner Beweisführung doch essenziell an, die Bereiche von Freiheit und Notwendigkeit zu verbinden, respektive einen Berühungspunkt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit herzuleiten. Systematisch befindet sich Schiller damit auf dem Grund der Kritik der Urteilskraft, welche bestrebt ist, die Kluft zwischen dem Natur- und Freiheitsbegriff, die ihre theoretische Grundlage in der dritten Antinomie der transzendentalen Dialektik findet, zu schließen, indem sie einen Übergang zwischen beiden Bereichen etabliert, der sich bei Kant (reflektierende) Urteilskraft nennt.
Indem Schiller darauf aufmerksam macht, dass das Wesen des Menschen bloß durch das Ineinandergreifen von Person und Zustand verständlich gemacht werden kann, schließt er an die kantische Problemlage an, dass der Mensch sich trotz seiner Vernunftbestimmung in der sinnlichen Welt zu verwirklichen hat, so dass die sinnliche Welt wenigstens ihrer Form nach mit der vernünftigen vereinbar sein muss. Diese prinzipielle Vereinbarkeit entdeckt Kant in der Tätigkeit der Urteilskraft im Bereich der Ästhetik. Analog – wenn auch unter anthropologischen Vorzeichen – schlussfolgert Schiller, dass das Schöne jenen Übergang zwischen Sinnlichkeit und Vernunft darstellt, der die notwendige Bedingung der Dualität des Menschen ausmacht.
Der Vortrag wird versuchen, diesen Gedankengang nachvollziehbar zu rekonstruieren und auf die systematischen Folgerungen aufmerksam machen, die sich aus ihm ergeben.
Danny Krämer (Universität Erfurt)
Antireduktionismus leicht gemacht!
Seit einiger Zeit gibt es erneut eine philosophische Debatte über Reduktion und Emergenz. Während man die Einstellung von Reduktionisten mit der Platitüde "das Ganze ist nicht mehr als die Summe seiner Teile" zusammenfassen könnte, müsste der passende Spruch der Emergentisten "Teile verhalten sich anders im Ganzen" lauten. In diesem Vortrag soll kurz gezeigt werden, dass die sich noch immer am positivistischen Wissenschaftsverständnis abarbeitenden Reduktionstheorien keine brauchbare Grundlage für einen Reduktionismus darstellen. Auch philosophische Reduktionsprogramme wie zum Beispiel der "Canberra-Plan" diskutieren am Wesentlichen vorbei. Stattdessen soll die Debatte unter den Naturwissenschaftlern selbst aufgegriffen werden. Dort wird seit einigen Jahren ebenfalls darüber diskutiert, ob ein Reduktionismus oder ein Emergentismus die richtige Grundlage für ein Verständnis der Wissenschaft und der Welt, die sie erforscht, darstellen kann. Die Debatte soll kurz rekonstruiert werden und anhand von wissenschaftlichen Beispielen für eine Form des Emergentismus plädiert werden.